STIMME #125/2022 Erinnern heißt verändern

Erinnern heißt verändern. Unter dieser Maxime hat sich die Initiative 19. Februar Hanau der Erinnerungsarbeit für die neun Todesopfer des rassistischen Anschlags 2020 verschrieben. Mit dem selben Slogan überklebten jüdische Aktivist:innen 2021, am Jahrestag des Novemberpogroms 1938, 23 nach Nazis benannte Wiener Straßenschilder mit Namen von Widerstandskämpfer:innen. 

Das Erinnern an Verbrechen der Menschheit darf sich nicht in Pflichterfüllung, in der „Harmonie der Vergangenheitsbewältigung“ 1 erschöpfen. Der Sinn des Gedenkens kann nur in seinem Beitrag liegen, die Wiederholung der Verbrechen, an die erinnert wird, zu verhindern, „die Erinnerung an das Geschehene, an das Vergessene, an das stets Verschwiegene, an die Ursachen und die Folgen, an das Davor und Danach zu nähren, zu pflegen, zu bewahren.“2

Im vorliegenden Schwerpunktheft kommen Wissenschaftler:innen, Aktivist:innen und Künstler:innen zu Wort, die sich aktiv für würdige Erinnerungskulturen engagieren. 

Gibt es ein globalisiertes Erinnern? Das Forschungsprojekt „Globalized Memorial Museums“ an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vergleicht weltweit 50 Museen, die sich dem Zweiten Weltkrieg sowie den Genoziden in Ruanda und im ehemaligen Jugoslawien widmen. Die Projektleiterin Ljiljana Radonić beschreibt, wie die Art des Erinnerns mit der jeweiligen nationalen Identitätspolitik einhergeht. 

Im Jahr 2016 begann der Aufbau eines Migrationsarchivs in Innsbruck. Die Sozialanthropologin Christina Hollomey und die Germanistin Tuǧba Şababoǧlu von Dokumentationsarchiv Migration Tirol berichten über die Herkunft der Bestände und der Unmöglichkeit einer lückenlosen Erzählung.

Was will ich sehen? Und was will ich, ohne es zu wissen, nicht sehen? Zwei von mehreren Fragen, die laut der Filmemacherin und Künstlerin Jo Schmeiser beim politischen Erinnern zu stellen sind. 

Erinnerungsarbeit für die Opfer rechtsextremer Gewalt – Stichwort sogenannte NSU-Morde oder Hanau 2020 – wird vor allem von Angehörigen und ihren Verbündeten geleistet. Die Pädagogin und forschende Aktivistin Ayşe Güleç berichtet von Forderungen an eine angemessene Erinnerungspolitik. 

Zu Erinnerungskulturen im Kärntner Grenzraum forschen und publizieren Nadja Danglmaier und Daniel Wutti. Cornelia Kogoj sprach mit ihnen über die Weitergabe von Traumata an die Nachfolgegenerationen und grenzüberschreitende Erinnerungsarbeit.

In institutionalisierten Archiven finden minorisierte Gruppen oft nur marginalisierten Raum. Der Historiker Andreas Brunner, Co-Leiter von QWIEN – Zentrum für queere Geschichte, betont die Rolle selbstorganisierter Community-Archive als Orte einer historischen Gegenerzählung. 

Nicht zuletzt fasst Melanie Konrad in der Radio-Stimme-Nachlese die Diskussionsveranstaltung „Ererbte Biografien im Land der Täter:innen“ mit Anna Goldenberg, Samuel Mago und Peter Schwarz zusammen. 

In eigener Sache

Mitte Oktober 2022 mussten wir uns mit einem Unterstützungsappell an Freund:innen und Verbündete der Initiative Minderheiten wenden. 

Unser Hilferuf löste eine unbeschreibliche Welle an Solidaritätsbekundungen aus. In kürzester Zeit gewannen wir so viele neue Mitglieder und Stimme-Abos, erhielten so viele Spenden, so dass Sie nun dieses Heft, dessen Produktion ebenso in Gefahr war, in Händen halten können. Dafür sind wir sehr dankbar. 

Viele wichtige NGOs, so auch die Initiative Minderheiten, sind von staatlichen Förderungen abhängig. „Minderheitenpolitische Standpunkte haben einen Mehrwert für die Gesamtgesellschaft, vor allen Dingen im Verhindern von Rechts- und autoritären Entwicklungen“, wie der Schriftsteller und Aktivist der Selbstbestimmt-Leben- Bewegung Erwin Riess festhält – und sein Alter Ego Groll unterstreicht: „Die Demokratie bedarf einer gesetzlich garantierten Förderung von Widerspruch“ (siehe auch Seite 34 in diesem Heft). 

Davon sind wir aber noch weit entfernt und benötigen weiterhin Ihre Unterstützung. Spenden Sie bitte jetzt, abonnieren Sie die Stimme, werden Sie Mitglied der Initiative Minderheiten. Damit wir uns auch in Zukunft für die Stärkung von Minderheitenrechten einsetzen können.

Wir bedanken uns sehr herzlich und hoffen auf ein Wiederlesen im neuen Jahr. 

Gamze Ongan, Chefredakteurin

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1 Joshua Schultheis: Erinnern heißt Verändern. In: www.jüdische-allgemeine.de, 3. 2. 2022.

2 Nevroz Duman und Ibrahim Arslan(2021): Von Mölln bis nach Hanau: Erinnern heißt verändern. In: Rechter Terror. Warum wir eine neue Sicherheitsdebatte brauchen. Hg. v. Heinrich-Böll-Stiftung und Amedeu Antonio Stiftung.


Stimmlage: Minoritäre Allianzen damals – und heute – von Hakan Gürses 

Lektüre – von Erika Thurner & Ilker Ataç 

Groll – Eine Generalblamage des Staates – von Erwin Riess


Gestaltung: Fatih Aydoğdu 

Lektorat: Daniel Müller www.syntext.at


Aboservice: abo(at)initiative.minderheiten.at

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