Wir sind uns einig, der Siebte Jenische Kulturtag am 30. September 2023 war einer der schönsten bisher! Danke an alle Beteiligten und Unterstützenden für den wunderbaren Tag und das eindrucksvolle Programm, an alle Besucher:innen für den intensiven Austausch und die schönen Momente!
Mit einem abwechslungsreichen Programm, vielen internationalen Gästen und einer wunderbaren Stimmung gehörte der Jenische Kulturtag am 30. September 2023, der auch dieses Jahr wieder in Kooperation mit dem Verein zur Anerkennung der Jenischen in Österreich und Europa veranstaltet wurde, zu den Highlights des Jahres.
Die Jenischen Kulturtage wenden sich gegen das Vergessen und treten ein für die Sichtbarmachung der Jenischen Gegenwart und Vergangenheit sowie des Beitrags der Jenischen zur Tiroler Geschichte. Jenseits von herabwürdigender Stereotypisierung und der Romantisierung der fahrenden Lebensweise soll bei den Jenischen Kulturtagen ein realistischeres Bild der teils vergessenen und verschwiegenen, teils noch lebendigen Traditionen, Kultur und Lebensformen gezeichnet werden.
Am Vorabend läutete die Vorführung des Films “Ruäch” in Kooperation mit dem Cinematograph-Filmverleih das Wochenende ein: “Eingeladen von einem geheimnisvollen Freund, begibt sich ein Filmteam auf eine Reise durch ein verborgenes jenisches Europa, das sich von staubigen Vororten Savoyens bis in die Wälder Kärntens erstreckt. Erzählt von jungen und alten Stimmen, entfaltet sich ein kaleidoskopisches Panorama jenischen Lebens. Ein unsichtbares Band verbindet diese Menschen: Es sind die tiefen Wunden der Vergangenheit, aber auch ihre Liebe zur Freiheit.” In intimen Rahmen konnten im Anschluss an den Film Fragen gestellt und Eindrücke ausgetauscht werden.
Am frühen Nachmittag ging es am Samstag schließlich los in der Kulturbackstube, die Bäckerei. Bei Kaffee und Kuchen trudelten Interessierte, Aktivist:innen, alte Bekannte und neue Gäste ein. Eröffnet wurde die Veranstaltung von Michael Haupt, Geschäftsführung der Initiative Minderheiten und Marco Buckovez vom Verein zur Anerkennung der Jenischen in Österreich und Europa. Ein besonderer Moment der Eröffnung bestand in der – leider nur digitalen – Grußbotschaft von Landeshauptmann Anton Mattle, bei der er versicherte, dass die Stimme der Jenischen vom offiziellen Land Tirol gehört wird und Jenische ein Teil unserer kollektiven Geschichte sind. Nicht nur bezeugt er damit die Existenz der Jenischen, sondern stellt das Gemeinsame in den Vordergrund. Die Kenntnis und Anerkennung einer gemeinsamen Geschichte Jenischer und Nicht-Jenischer ist für ein umfassendes Geschichtsbild des Landes essenziell. Landeshauptmann Mattle verwies in seiner Rede auch auf den Wert und die Notwendigkeit von Stimmen von Minderheiten für die Demokratie. Auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen spricht in digitalen Grußworten an das Jenische Archiv vom 22. September 2023 davon, dass mit der Bewahrung und Sammlung von „Dokumente[n] und Belege[n] des Jenischen Lebens […] ein Stück Geschichte bewahrt [wird], das Bestandteil unserer gemeinsamen österreichischen Geschichte ist.“
Erstmals in der Geschichte Österreichs wurde Jenischen damit ihr gesellschaftlicher und historischer Raum von hohen politischen Amtsträger:innen zuerkannt, der ihnen im Zuge der langen Ausgrenzungs- und Verfolgungsgeschichte verwehrt wurde und bis heute wird. Nach dem Beschluss des Tiroler Landtags vom 7. Juli 2022, in dem die Landesregierung aufgefordert wurde, „die Jenischen aktiv in der Aufarbeitung ihrer Geschichte [zu] unterstützen […]“ waren das die ersten Signale, die in diese Richtung gehen. Eine Presseaussendung im Anschluss an den Jenischen Kulturtag versammelte u.a. auch Reaktionen von Jenischen Aktivist:innen auf die Grußbotschaften und ist auf der Website der Initiative Minderheiten Tirol nachzulesen.
Das inhaltliche Programm eröffnete die Lesung von und das Gespräch mit Isabella Huser. Isabella Huser hat Schicksale ihrer jenischen Vaterfamilie recherchiert und ist dabei auf Materialien gestoßen, die bis zur Entstehung der modernen Schweiz im 19. Jahrhundert zurückreichen. Ihr Roman »Zigeuner« ist ein fulminantes zeitgeschichtliches Tableau, gefüllt mit prallem Leben und nacktem Entsetzen. Das anschließende Gespräch, moderiert von Heidi Schleich, vertiefte Isabella Husers Auseinandersetzung mit ihrer Familiengeschichte und leitete damit über zum anschließenden Austausch zwischen privater und wissenschaftlicher Jenischer (Familien-)Forschung. Nach einer stärkenden und kommunikativen Pause teilten unter dem Titel “Von Familienforschung und historischen Recherchen” hier, moderiert von Michael Haupt, geladene Gäste ihre Erfahrungen, die Schwierigkeiten des Prozesses aber auch Ergebnisse der Aufarbeitung. Die Beiträge von Klaus Biedermann, ein Historiker, der Recherchen zum jenischen Anteil an der eigenen Familiengeschichte angestellt hatte, von Ina Friedmann, Zeithistorikerin mit Fokus auf Medizingeschichte, von Isabella Huser, Autorin und Reinhold Monz, der seit jeher privat zu jenischen Familiengeschichten recherchiert, zeigten die Bandbreite der Kontexte und Herangehensweisen auf und brachten eindrucksvolle Geschichten zu Tage.
Das Abendprogramm wurde mit einem Gespräch mit Lora Yeniche & The Gribs, moderiert von Simone Schönett und übersetzt von Veronika Riedl, eingeleitet. Lora Yeniche und Gribs sind aus der Gemeinschaft der «Gens des voyage» («Reisende Leute») in Frankreich. Sie, Jenische, kommt aus Metz in Lothringen und er, Sinto, stammt ursprünglich aus Marseille. Zum ersten Mal war somit die Perspektive von Jenischen in Frankreich beim Jenischen Kulturtag vertreten. Im überaus charmanten Gespräch teilte das Künstler:innenpaar ihren musikalischen Werdegang und ihre Erfahrungen als Jenische und Sinto in Frankreich, inklusive spontaner Musikeinlage mit “Löffeln”. Im Anschluss begeisterten sie mit einem stimmungsvollen Konzert zwischen Rap und Gesang und ausdrucksstarken Songs wie “Cœur De Yéniche” (Jenisches Herz).
Auch in diesem Jahr besuchten etwa 80 Gäste den Jenischen Kulturtag, darunter auch viele Aktivist:innen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz.