2. Jenischer Kulturtag - Impressionen

Am Samstag, den 23. September um 13:30 Uhr begann der 2. Jenische Kulturtag der Initiative Minderheiten Tirol. Bei knisterndem Feuer und köchelndem Kesselgulasch trudelten nach und nach die Gäste aus ganz Tirol und Österreich, der Schweiz und Deutschland ein und lernten sich beim Mittagessen an der Feuerschale und unter strahlend blauem Himmel kennen. So wurden bereits in entspannter Atmosphäre erste Kontakte geknüpft und sich rege ausgetauscht.

Die Eröffnung wurde gemeinsam von Michael Haupt, dem Geschäftsführer der Initiative Minderheiten Tirol, und Sonja Prieth gestaltet, die sowohl das Programm als auch die geladenen Personen vorstellten. Im Zuge dessen ergriff auch Gerhard Fritz, Stadtrat für Integration der Stadt Innsbruck, das Wort und betonte seine Freude darüber, dass sich die Initiative Minderheiten dieses Jahr erneut mit der jenischen Kultur als Teil der Tiroler Gesellschaft auseinandersetzen würde und sich die Jenischen selbst präsentierten. In seinem Statement wies er nachdrücklich darauf hin, welch hohen Stellenwert er der jenischen Kultur als „wichtiger Farbtupfen in unserer bunten Stadt“ beimesse und dass er Veranstaltungen begrüße, die „dazu beitragen, dass dieser Farbtupfen ein bisschen kräftiger und leuchtender wird“.

Als ersten inhaltlichen Programmpunkt betrat Carmen Gratl, Schauspielerin und Produzentin aus Innsbruck, die Bühne, um Passagen aus dem Werk Mariella Mehrs, einer in der Selbstbezeichnung Roma-Schriftstellerin aus Zürich, vorzutragen. Die Autorin und politisch engagierte Journalistin Mariella Mehr ist selbst Jenische und war in ihrer Kindheit der Verfolgung und Misshandlung der Aktion „Kinder der Landstraße“ ausgesetzt, die jenischen Familien systematisch die Kinder wegnahmen. In ihren Büchern verarbeitet sie auf eindrucksvolle Art und Weise ihre eigenen und die Erfahrungen ihrer Mutter, ihr Leben in Heimen und ihre aufkeimende Leidenschaft für die von der katholischen Kirche sogenannten verbotenen Bücher. Carmen Gratl gelang es dabei, die Texte lebendig werden zu lassen und die Zuhörenden in den Bann zu ziehen. So wurde durch die Lesungen stets stimmungsvoll in die Gesprächsrunden eingeleitet.

Den Anfang machte dabei das Gespräch zwischen Michael Haupt und Stefan Dietrich zu Erinnerungsbruchstücken und Familienüberlieferungen über das jenische Leben im 19. Jahrhundert. Stefan Dietrich ist Historiker aus Telfs und hat durch seine Leidenschaft für Geschichte schon in jungen Jahren angefangen, die Erzählungen seiner Großtanten aufzunehmen und für die Gegenwart und Zukunft zu konservieren. So war es möglich, dass er später mündliche Überlieferungen zur Hand hatte, die bis in die 1820er Jahre zurückreichten. Diese versuchte er schließlich durch Recherchen mit Fakten zu unterfüttern – und er wurde fündig. So fand er Beweise und Einträge in kirchliche Register und Gemeindebücher, die eine Rom-Ehe seiner Vorfahren belegten. Eine Rom-Ehe, das heißt eine Trauung durch den Papst bzw. einen päpstlichen Vertreter in Rom, war damals für viele Jenische der einzige Weg, eine Ehe zu schließen, da ihnen dies von der Gemeinde verwehrt wurde. Das unterstreicht einmal mehr, wie auch Staat und Kirche bei der Diskriminierung von Jenischen zusammenarbeiteten. Zwischen Erzählungen und historischen Fakten brachte sich auch das Publikum mit aufschlussreichen Hintergrundinformationen und Anregungen ein und in der anschließenden Pause wurde angeregt weitergeplaudert.

Das zweite Gespräch zwischen Sonja Prieth und Christian Neumann beleuchtete den Ursprung und das „Volk“ der Jenischen aus einer anderen Perspektive, nämlich aus Sicht der Subcultural Studies. Christian Neumann hatte nach 40 Jahren internationalem Tunnelbau ein Studium der europäischen Ethnologie/Volkskunde an der Universität Innsbruck begonnen und sich dabei intensiv mit Theorien zur Herkunft der Tiroler Jenischen auseinandergesetzt. Seine Idee war schließlich, dass sich die Jenischen durch ihre Lebensweise in der frühen Neuzeit der Armut, von der die gesamte Bevölkerung Tirols betroffen war, entzogen und somit im Vergleich zu den sesshaft Gebliebenen einen relativen Wohlstand erlangten. „Arm waren [also] die Anderen“, wie Christian Neumann es mit dem Titel seiner Arbeit auf den Punkt bringt. Im Anschluss an das Gespräch wurde kritisch der Begriff der Subkultur und der Einfluss thematisiert, den wissenschaftliche Begriffe und Fremdbezeichnungen auf politische Realitäten und Fragen der Anerkennung von Minderheiten, wie eben von Jenischen, haben.

Weiterer spannender Input kam von Nina Debrunner, Musik-und Literaturwissenschaftlerin, die das Archiv Mariella Mehrs in Bern vorstellte. Sie selbst hatte maßgeblich an der Erschließung mitgewirkt und sich intensiv mit Werk und Autorin auseinandergesetzt. Archiv-Präsentation – eine solche Ankündigung weckt Konnotationen wie „trocken“ und „verstaubt“. Ganz im Gegensatz dazu zeichneten jedoch die Erzählungen Nina Debrunners ein lebendiges Bild der Autorin Marielle Mehr, ihrer akribischen Arbeitsweise und ihres umfassenden Werkes.

Im Anschluss verköstigte der Feldverein zur Nutzung von Ungenutztem die Gäste mit einer Suppe, die die Lebensgeister weckte und für den letzten Teil des jenischen Kulturtags stärkte.

Die Abschlussgesprächsrunde bestritt Michael Haupt mit Martin Flicker und Josef Glatz. In entspannter Wohnzimmeratmosphäre wurde von Kindheits- und Jugenderfahrungen erzählt, von erlebten Diskriminierungen und den starken Frauen, die das Leben der beiden prägten. Im Fall Martin Flickers war das vor allem auch die Urgroßmutter, die ihn in altes Wissen um Pflanzen und deren Heilkraft einweihte, welches er heute in Form von Workshops an Interessierte weitergibt. Josef Glatz sprach viel von seiner Mutter, die im „berühmt-berüchtigten“ 55er Haus in Telfs viel Courage und Durchsetzungskraft bewies. Auch die Einstellung Jenischer zum Aberglauben kam zur Sprache – und mit dem jenischen Wort für Geister und der Feststellung, diese seien nun mal da, endete die letzte Gesprächsrunde in amüsiertem Schmunzeln.

Als krönenden Abschluss des ersten Tages läutete Joseph Mülhauser alias Counousse mit dem Griff zu seinem Schwyzerörgeli den Ausklang des Abends ein. Der Schweizer Musiker rief alsbald eine beschwingte Stimmung hervor, bei der auf den erfolgreichen Tag mit Sekt angestoßen und die neuen Bekanntschaften und Freundschaften vertieft wurden.

Ein weiteres Highlight der Veranstaltung war sicherlich die Ausstellung von historischen Fotos und Dokumenten, die in mehreren Fällen die Podiumsgespräche bildlich untermalten. So waren unter anderem die Vorfahren Stefan Dietrichs zu sehen, die im 19. Jahrhundert eine Rom-Ehe schlossen, sowie die Familie Josef Glatzs und das 55er Haus in Telfs. Besonders spannend war das Schultagebuch eines jenischen Mädchens, das aus einem Privatarchiv bereitgestellt wurde, und die dazugehörigen Karten, auf denen im Laufe von drei Schuljahren die Route der Familie nachverfolgt werden konnte. Dank dem Tiroler Landesmuseum konnten zudem Fremd- und Selbstdarstellungen von Jenischen gegenübergestellt werden.

Als weiteres Rahmenprogramm sorgte auch die Möglichkeit zum Messerschleifen für große Begeisterung. Dank den Brüdern Hans und Reinhold Monz konnten Gäste selbst Hand anlegen, an alten Tischschleifgeräten ihr Geschick ausprobieren und historisches Werkzeug bestaunen.

Der 2. Jenische Kulturtag endete schließlich am Sonntag mit einer Filmmatinée im Zeughaus. Nach einer Einleitung von Heidi Schleich wurde der Film „Unerhört Jenisch“ von Karoline Arn und Martina Rieder gezeigt und die Zuschauenden mit auf die Reise des Musikers Stephan Eicher und seines Bruders Erich Eicher genommen. Auf der Suche nach ihren jenischen Wurzeln treffen diese auf die Familien Moser, Waser und Kolleger und deren Musiktraditionen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. So wurden die Gäste des Jenischen Kulturtages mit „jenischem Swing“ im Ohr entlassen. Wir freuen uns auf ein Wiedersehen im nächsten Jahr!